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Filderdialog

"In den Köpfen der Akteure ist einiges in Bewegung"

Staatsrätin Gisela Erler

Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, berichtet im Interview mit der Stuttgarter Zeitung von ihren Erwartungen an den Filderdialog. Das Verfahren könne eine sinnvolle Methode sein, um festgefahrene Konflikte zu bearbeiten.

Stuttgarter Zeitung: Frau Erler, wie viele Menschen müssen mitmachen, bis eine Bürgerbeteiligung den Ansprüchen einer für Bürgerbeteiligung zuständigen Staatsrätin genügt?

Gisela Erler: Eine Bürgerbeteiligung ist kein Volksbegehren, bei dem es Quoren von sechs, zehn und mehr Prozent gibt. Es kommt dabei nicht darauf an, einen bestimmten Prozentsatz zu erreichen. Es geht vielmehr darum, dass von einer Zahl ausgewählter Teilnehmer die unterschiedlichen Interessen der Bürger vertreten werden.

Stuttgarter Zeitung: Warum bezweifeln dann so viele Betroffene, dass beim Filderdialog alle Interessen gleichermaßen vertreten werden? Viele Bürger, die dabei sein wollten, dürfen es nicht . . .

Erler: Der Filderdialog ist eine ungewöhnlich große Form der Bürgerbeteiligung, bei der die gesamte Meinungsbreite im Raum sitzt. Da sind zum einen die 88 gesetzten Vertreter der Kommunen und Parlamente, die bei den meisten vergleichbaren Mediationsverfahren nicht dabei sind. Dazu kommen zusätzlich noch 80 nicht so exponierte und aktive Bürger, die . . .

Stuttgarter Zeitung: . . . man in die Filderhalle tragen muss . . .

Erler: Es ist sehr viel darüber geschrieben worden, dass angeblich keiner der angeschriebenen Bürger am Dialog teilnehmen will. Es war für uns natürlich enttäuschend, dass sich zunächst nur fünf Teilnehmer gemeldet hatten. Wir haben da einfach ein paar Fehler gemacht. Inzwischen haben wir mehr als 70 zufällig ausgesuchte Bürger, das ist angesichts der schwierigen Situation ein sehr gutes Ergebnis.

Stuttgarter Zeitung: Welche Fehler sind gemacht worden?

Erler: Nun, zum einen war einfach sehr wenig Zeit, aber das wussten wir und darauf haben wir uns auch eingelassen. Wenn wir Bürgerbeteiligungen nur dort durchführen, wo absolut ideale Bedingungen herrschen, wird es zu einer Wunschspielwiese. Das Hauptproblem lag aber wohl darin, dass wir unser erstes Anschreiben zu kühl formuliert haben. Ich habe mir erst später klar gemacht, dass viele Bürger Angst hatten, wieder in die alte Kontroverse um Stuttgart 21 hineingezogen zu werden. Sie befürchteten, dass sie öffentlich Position beziehen sollten und dafür angeprangert werden. Daher haben wir versucht, den Bürgern in einem neuen Anschreiben klarzumachen, dass sich bei der Veranstaltung niemand outen muss, sondern Sachverstand und Alltagswissen gefragt sind.

Stuttgarter Zeitung: Und sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Erler: Wir haben jetzt, wie gesagt, mehr als 70 Anmeldungen, das ist ein klarer Indikator, dass Interesse vorhanden ist. Unter normalen Umständen, wenn etwa in weniger vorbelasteten Situationen über ein Einkaufszentrum abgestimmt wird, ist die Beteiligung natürlich höher. Erfreulich ist aber, dass 45 Prozent der freiwilligen Teilnehmer Frauen sind, das ist überdurchschnittlich viel. Ein Problem, mit dem wir nicht gerechnet hatten, war sicher auch, dass die lokalen Eliten das Projekt nach außen nicht unterstützt haben. Es gibt Oberbürgermeister, die kein Wort zu Gunsten des Dialogs gesagt haben. So ein Verhalten hatte ich nicht erwartet, und, ganz ehrlich: Ich habe es auch nicht verstanden.

Stuttgarter Zeitung: Also sind Sie unzufrieden mit der Unterstützung, zum Beispiel durch den Leinfelden-Echterdinger OB Roland Klenk?

Erler: Ich nenne keine Namen, denn darum geht's auch nicht. Ich habe erwartet, dass ehrlich gemeinte Gesprächsangebote auch angenommen werden, zumal von politischen Kräften. Das war aber offenbar naiv von mir. Ein solches Primat der Politik vor sachlichen Debatten hatte ich nicht erwartet. Ich glaube aber, dass sich diese Haltung im Lauf des Dialogs ändern kann.

Stuttgarter Zeitung: Viel Kritik gibt es auch am Verfahren selbst, viele hätten lieber einen Faktencheck auf den Fildern gesehen.

Erler: Also, man muss das Verfahren erst einmal selbst erlebt haben, um es beurteilen zu können. Wir haben uns ganz bewusst für einen anderen Ansatz entschieden. Wir wollten keine weitere Geißler-Schlichtung mit Experten, die sich wohlbekannte Thesen mit guten oder schlechten Begründungen berichten - mit dem zu erwartenden Erfolg, dass sich gar nichts bewegt. Auch Heiner Geißler musste am Ende ja einen kühnen und nicht in allen Punkten realistischen Schlichterspruch fällen, weil die Positionen nicht vereinbar waren. Unser Verfahren basiert darauf, eine Großgruppenmoderation mit Menschen durchzuführen, die etwas offener, neugieriger und nicht ganz so festgelegt sind. Dadurch ergibt sich die Chance, dass sich in der Diskussion mit Menschen, die schon feste Meinungen haben, Bewegung entsteht. Ganz Stuttgart ist eine verfehdete Großgruppe, es muss erst mal ein Gruppenprozess in Gang gesetzt werden. Dieses Verfahren hat sich bei festgefahrenen Konflikten schon sehr bewährt, um Diskussionen zu öffnen, neue Aspekte ins Spiel zu bringen, überhaupt einen Dialog zu ermöglichen. Das ist der tiefere Sinn dabei.

Stuttgarter Zeitung: Welchen Spielraum gibt es bei der Diskussion über die beste Trasse zwischen Rohrer Kurve und Flughafen tatsächlich?

Erler: Ich bin nicht das Orakel von Delphi. Aber ich habe dieses Verfahren persönlich unterstützt, weil ich den Eindruck habe, dass in den Köpfen der Akteure einiges in Bewegung ist. Bestimmte Prämissen scheinen nicht mehr so fest zu stehen, wie das vielleicht der Fall war. Ich denke, dass es auf jeden Fall eine ausreichend große Bereitschaft zum Nachdenken gibt. Und das reicht für mich, um es zu versuchen. Falls es wirklich auf die Antragstrasse hinausläuft, wäre diese zumindest besser begründet und diskutiert worden. Es ist damit auch eine Vorbereitung auf das spätere Planfeststellungsverfahren. Der Filderdialog bringt alle Argumente und Informationen über die Trassen auf den Tisch. Ein Nutzen ist also auf jeden Fall da.

Stuttgarter Zeitung: Wenn sich das Verfahren tatsächlich bewähren sollte, wird es dann zu einer Blaupause, also richtungsweisend für die Zukunft?

Erler: Zumindest bei einzelnen Elementen daraus ist das vorstellbar. Es wäre ein Zeichen, dass es sich lohnt, mit solchen Methoden auch in Konfliktsituationen zu gehen. Und dass es möglich und sinnvoll ist, auch die sogenannten stimmlosen Bürger einzubinden, nicht nur engagierte und betroffene Anwohner. Insofern könnte dieses Verfahren ein beispielhaftes Modell sein, für die Zukunft wird man aber sicher auch noch neue Formen finden müssen.

Stuttgarter Zeitung: Seit dem Konflikt um Stuttgart 21 wird die Bürgerbeteiligung ja als Allzweckwaffe propagiert. In der Realität ist das Interesse an der politischen Teilhabe aber oft nicht so groß. Ist die Zeit doch noch nicht reif dafür?

Erler: Wir wissen doch alle, dass man keine Großprojekte mehr planen kann, ohne dass irgendwann Bürger unangenehm auf den Plan treten. Da können sie auch nach Frankfurt, Berlin oder München schauen.

Stuttgarter Zeitung: Auch dort sind es in aller Regel Anwohner und Betroffene, die sich engagieren - für ihre eigenen Interessen.

Erler: Die wenigsten bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 waren direkt Betroffene. Es ist dabei doch auch verstärkt um allgemeine Themen gegangen. Wie soll der Nahverkehr künftig aussehen, wie die Mobilität der Zukunft, was braucht eine moderne Stadt, welche Dinge müssen für die Modernisierung preisgegeben werden? Die Bürger wollen bei solchen Fragen mitreden, das steckt ganz bestimmt in den Köpfen. Jetzt ist es die Holschuld der Politik, geeignete Formen zu finden, um diese Menschen mitzunehmen.

Stuttgarter Zeitung: Glauben Sie wirklich, dass so ein System funktionieren könnte? Vielen ist doch egal, was eine Straße weiter passiert?

Erler: Nicht alle wollen ihr Leben in Beteiligung verbringen. Aber die Bürger wollen bei bestimmten Fragen mitreden, davon bin ich überzeugt. Bürgerbeteiligung ist aber ein langwieriger Prozess, den man erst lernen muss. Das zeigt uns ja auch das Beispiel der Schweiz. Dort können sie beobachten, dass eine Bevölkerung es lernen kann, bei bestimmten Fragen immer wieder gehört zu werden. Dazu muss man als erstes Vertrauen zu solchen Verfahren entwickeln. Das ist unser Ziel, daran arbeiten wir.

Stuttgarter Zeitung: Eigentlich macht man einen solchen Dialog aber zu Beginn eines Projekts, oder?

Erler: Wir sind auch nicht der Meinung, dass der Zeitpunkt für den Filderdialog sonderlich günstig ist. Andererseits ist das Land voll von Dingen, die schon angefangen haben. Es hat wenig Sinn, nur im jungfräulichen Gelände zu agieren. Man muss es auch versuchen, wenn es kompliziert wird.

Stuttgarter Zeitung: Werden Sie selber am Filderdialog teilnehmen?

Erler: Ich bin keine offizielle Teilnehmerin, werde am Samstag aber natürlich den ganzen Tag dabei sein und den Dialog auch offiziell eröffnen. Ich habe das Verfahren massiv unterstützt und bin jetzt sehr neugierig, was dabei herauskommt.

Das Gespräch führten Holger Gayer und Markus Heffner.

Quelle:

Stuttgarter Zeitung
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