Baden-Württemberg gilt als Vorbild für großen ehrenamtlichen Einsatz in der Flüchtlingshilfe und eine engagierte Zivilgesellschaft. In anderen europäischen Ländern ist die Willkommenskultur weniger ausgeprägt, wie Staatsrätin Gisela Erler im Interview betont. Doch bei allen Unterschieden gebe es überall auch gute Beispiele und beeindruckende Hilfsprojekte, die Mut machen.
Frau Erler, die Flüchtlingskrise und der Umgang damit ist trotz sinkender Zuwanderungszahlen unverändert eines der brennendsten politischen Themen in Europa. Was haben Sie von Ihren jüngsten Delegationsreisen in die Nachbarländer Dänemark und Österreich sowie von ihrem Besuch in Italien mitgenommen?
Gisela Erler: Soweit ich das mit meinen sehr punktuellen Eindrücken beurteilen kann, hat jedes dieser Länder einen ganz eigenen Kurs im Umgang mit der Zuwanderung eingeschlagen, der unterschiedliche Konsequenzen und Rahmenbedingungen zur Folge hat und auch die Grundstimmung prägt. In Österreich beispielsweise hat sich der Diskurs zuletzt massiv verschärft, in Dänemark wiederum die Gesetzeslage. Italien geht gewohnt kreativ und mit großem ehrenamtlichen Engagement mit dem Thema Flüchtlingshilfe um, wobei die Toleranz in der Bevölkerung gegenüber geflüchteten Menschen angesichts der Belastungen in manchen Regionen noch erstaunlich hoch ist. Bei allen Unterschieden gibt es überall gute Beispiele und beeindruckende Hilfsprojekte der Zivilgesellschaft, die Mut machen.
Was hat Sie in Italien am meisten beeindruckt?
Erler: Gerade in Italien haben wir sehr viele positive Erfahrungen gemacht. Bewundernswerte Arbeit leistet etwa die Gemeinschaft Sant‘ Egidio, die wir in Rom besucht haben und die sich auf besondere Art und Weise um Flüchtlinge kümmert. Die Menschen werden dabei von Beginn an vollständig in das Gemeinschaftsleben integriert, ein Nebeneffekt dabei ist eine höchst intensive und erfolgreiche Sprachausbildung. Bei diesem Zusammenleben lernen die Flüchtlinge in sehr kurzer Zeit die italienische Sprache und werden dann ihrerseits zu Beratern und Unterstützern für neuankommende Flüchtlinge. Die Gemeinschaft hat mit diesem ehrenamtlichen Engagement Strukturen geschaffen, die eine extrem effektive Integration ermöglichen. Das ist ein europaweit herausragender Ansatz, von dem man viel lernen kann.
Andererseits steht Italien auch für einige Negativbeispiele, etwa im Bereich der Sozialhilfe, die es schlicht nicht gibt.
Erler: Das stimmt, eine Sozialhilfe im deutschen Sinne gibt es in Italien nicht – weder für Geflüchtete noch für Italiener. Es gibt aber zum Beispiel für alle einen Zugang zu Krankenhäusern und Schulen. Wir haben vor Ort unter anderem mit Vertretern des Flüchtlingsrats gesprochen und uns sagen lassen, dass diese Form der „Gleichberechtigung“ vor allem in Süditalien eine Art Alltagstoleranz gegenüber Flüchtlingen zur Folge hat, weil kein Neid aufkommen kann. Das kann ich natürlich nun nicht nachprüfen, aber allgemein gesprochen sehe ich es positiv, dass die Italiener mit der Registrierung der Flüchtlinge nicht lax umgehen, sondern ihr System konsequent verbessert haben. Generell lässt sich sagen, dass es auf kommunaler Ebene durchaus Helferstrukturen in Form freier Organisationen gibt, die aber nicht systematisch mit staatlichen Einrichtungen verknüpft sind.
Wo stehen Staat und Zivilgesellschaft in Dänemark im Vergleich?
Erler: Sowohl der dänische Staat als auch die Bevölkerung sind klassischerweise sehr integrationswillig, zumindest ist das bisher so gewesen, was auch die hohen Aufnahmezahlen vor dem Jahr 2014 zeigen. Demgegenüber steht aber ein sehr ausgeprägter Wohlfahrtsgedanke, der als eine Art Leitmotiv über allem schwebt. Dieser Wohlfahrtsstaat, für den die Menschen auch gerne hohe Steuern zahlen, scheint im Verständnis der Dänen nun bedroht zu sein von den Migranten und Flüchtlingen, die ins Land kommen. Das tolerante und liberale Klima, für das Dänemark traditionell steht, ist im Zuge dieser Ängste und Diskussionen sehr viel rauer geworden.
Mit welchen Folgen?
Erler: In dem Bestreben, den erarbeiteten Wohlstand für die eigene Bevölkerung zu schützen, wurden immer neue Gesetzesverschärfungen angeregt und auch erfolgreich durchgesetzt. Der rechtliche Rahmen, in dem sich Flüchtlinge und Migranten bewegen können, wird immer enger. Es gibt nach wie vor engagierte Menschen mit karitativem Hintergrund, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Das haben wir unter anderem bei einem Treffen mit Vertretern der dänischen Zivilgesellschaft, dem Flüchtlingsrat, dem Roten Kreuz und einer lokalen Flüchtlingsinitiative erfahren. Die Willkommenskultur auf freiwilliger Basis ist aber nicht mehr so stark ausgeprägt wie früher. Was bei uns vielfach freiwillig und ehrenamtlich organisiert wird, übernehmen in Dänemark meist staatliche Organisationen. So ist zumindest der punktuelle Eindruck, den wir bekommen haben.
In Wien haben Sie zuletzt in der Urania an der Tagung „Zivilgesellschaft im Dialog“ teilgenommen und dabei auch über die Flüchtlingshilfe diskutiert – und das mitten im österreichischen Wahlkampf, in dem es nicht gerade an populistischen Äußerungen gemangelt hat. Konnten Sie Überzeugungsarbeit leisten?
Gisela Erler: Wir haben auf dieser Reise mit vielen Menschen gesprochen, aus Zivilgesellschaft und Politik gleichermaßen. Viele eint die große Sorge, in welche Richtung sich das Land entwickeln wird. Der öffentlich geführte Diskurs ist in den vergangenen Jahren drastisch verschärft worden, gleiches gilt für den Ordnungsrahmen. Die Sorge um die Sicherheit steht im Vordergrund, was sich in der Grundhaltung der Bevölkerung widerspiegelt.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Zivilgesellschaft?
Erler: Österreich hat eine sehr reiche Tradition des Ehrenamtes und eine engagierte Zivilgesellschaft. Tatsächlich leben viele Organisationen und Einrichtungen derzeit in der Sorge, dass die Zivilgesellschaft im aktuellen Klima eine immer geringere Rolle spielen und ihre historisch starke Stimme verlieren wird. Sie wünschen sich daher, dass auf staatlicher Ebene eine strukturell etablierte Vertretung der Zivilgesellschaft geschaffen wird, vergleichbar mit dem Amt der Staatsrätin in Baden-Württemberg.
Also ein Modell nach dem Vorbild Baden-Württemberg, dessen Zivilgesellschaft bisher wohl einmaliges geleistet hat in der Flüchtlingshilfe. Wo sehen Sie das Bundesland im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland und Europa?
Erler: Ich finde, dass wir in diesem Bereich im direkten Vergleich ganz zweifellos eine herausragende und herausgehobene Stellung einnehmen. Wir haben in Baden-Württemberg die höchsten Ehrenamtszahlen, verbunden mit einem enormen Potential, Ideen und Unterstützung. Die Vernetzung mit den Kommunen und die vielen Kooperationen auf Landesebene sind bemerkenswert und wohl einzigartig. Nirgendwo sonst sind bisher systematisch solche Unterstützerstrukturen aufgebaut worden, wie es in Baden-Württemberg erfolgt ist. Ich denke, dass sich dies auch positiv auf das Gesamtklima im Land auswirkt. Damit möchte ich keineswegs das ehrenamtliche Engagement in anderen europäischen Ländern schmälern. Ich denke vielmehr, dass wir uns zu unseren Erfahrungen in Europa austauschen sollten, denn die Flüchtlingspolitik ist eine europäische Thematik.
Es gibt allerdings immer mehr Menschen, die sich Sorgen machen oder verunsichert sind. Wo sehen Sie derzeit den größten Handlungsbedarf?
Erler: Eine große Rolle spielt auch bei uns das Thema Abschiebung, das die ehrenamtlichen Helfer und die Unternehmen als potentielle Arbeitgeber gleichermaßen verunsichert und auch wütend macht. Die große Kluft zwischen einer empathischen Willkommenskultur und der Abschiebung von Menschen, die sich integriert und eine Arbeit gefunden haben, ist eine große Belastung und Herausforderung für viele. Wir müssen besser vermitteln, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Erwerbstätigkeit oder eine Ausbildung vor einer Abschiebung schützen oder nicht. Sowohl die Flüchtlinge als auch die Unternehmen und ehrenamtlichen Helfer müssen wissen, woran sie sind. Hier muss sich etwas bewegen.
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