Beide Ansätze werden als Bürgerbeteiligung bezeichnet. Es handelt sich aber um unterschiedliche Methoden. Die Direkte Demokratie ersetzt eine Entscheidung der gewählten Vertreterinnen und Vertreter. Es handelt sich ferner um die Zuspitzung auf eine Ja- oder Nein-Frage. Das wird vom Gesetz gefordert. Juristische Klarheit ist das Ziel. Alternativen oder Zwischenlösungen können nicht abgestimmt werden. Bürgerentscheide und Volksabstimmungen gelten als Mittel des Protestes.
Bei Direkter Demokratie geht es am Ende darum, dass sich eine Seite per Mehrheit durchsetzt. Bei Dialogischer Bürgerbeteiligung geht es darum, zu einer ausgewogenen Lösung zu kommen. Die Dialogische Bürgerbeteiligung setzt auf Meinungsbildung. Es geht darum, alle Aspekte zu kennen und dann abzuwägen. Das erfordert Zeit und Ruhe. Deshalb kümmern sich zufällig ausgesuchte Teilnehmende um die Fragen. Das hat den weiteren Vorteil, dass sie emotional nicht so nahe am Streit sind. Zufallsbürgerinnen und -bürger können sich vertieft mit einer konkreten und streitigen Frage befassen. Hervorzuheben ist, dass die Zufallsbürgerinnen und -bürger sehr breit in das Thema eingeführt werden. Expertinnen und Experten, aber auch Befürworterinnen und Befürworter und harte Kritikerinnen und Kritiker eines Vorhabens können ihre Argumente vortragen.
Dialogische Bürgerbeteiligung und Öffentlichkeitsbeteiligung sind unterschiedliche Dinge. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist Teil von Verwaltungsverfahren. Sie dient dazu, Entscheidungen rechtssicher zu machen. Die Öffentlichkeitsbeteiligung setzt (vereinfacht gesagt) die eigene Betroffenheit voraus. Zum Beispiel die Nähe zu einem Neubau. Erörterungstermine in einer Turnhalle sind typisch für diese eine Form der Öffentlichkeitsbeteiligung. Es ist eine Art Anhörung. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist vor allem in Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes geregelt.
Ganz anders die Dialogische Bürgerbeteiligung. Sie findet ausdrücklich außerhalb von förmlichen Verfahren statt. Sie dient der öffentlichen Meinungsbildung. Die Dialogische Bürgerbeteiligung soll den Behörden und Parlamenten helfen, eine gute Entscheidung zu treffen. Mit Zufallsbürgern gelingt es, Menschen zu finden, die emotional einem Thema fernstehen. So läuft die Meinungsbildung ruhig und sachlich ab. In Baden-Württemberg gibt es ein Gesetz, das diese Form der Bürgerbeteiligung fördert.
Das ist in Baden-Württemberg durch Gesetz geregelt. Grundlage sind die Daten der Einwohnermeldeämter. Das Gesetz regelt hohe Standards des Datenschutzes. Bei der Losauswahl gibt es verschiedene Lostöpfe, zum Beispiel Frauen / Männer, Land / Stadt, Alter et cetera. Innerhalb dieser immer noch sehr große Lostöpfe entscheidet das Los. Das Prinzip wird schon lange in der Bürgerbeteiligung genutzt.
In aller Regel melden sich drei bis sieben Prozent der Ausgelosten zurück. Bei Präsenz-Veranstaltungen muss man immer mit ein Drittel kurzfristiger Absagen rechnen. Bei Videokonferenzen ist die Zahl der Absagen deutlich geringer.
Mehr zur Losauswahl haben wir Ihnen hier aufbereitet.
Nahezu jedes Bürgerforum zieht massive Kritik zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie von Verbänden auf sich. Das ist ganz normal. Weltweit ist das schon gut erforscht. Und auch gut nachvollziehbar. Gerade Bürgerinitiativen betonen ein (Contra-)Argument besonders stark. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Öffentlichkeit zu vertreten – jedenfalls besser zu vertreten als Politik und Verwaltung. Zufallsbürgerinnen und -bürger erschüttern die Erzählung, nur die lokale Interessengruppe vertrete die wahre Meinung des Volkes. Deshalb streben lokale Interessengruppen in den meisten Fällen einen Bürgerentscheid an. Oft geht diese Verfahrens-Kritik weit über sachliche Argumente hinaus. Es heißt dann, die Bürgerforen seien ein „Alibi“, „nur Volksverdummung“, „nicht repräsentativ“, „Nudging“ usw. Das Ziel solcher Kritik ist offenkundig. Denn die Sorge, die Bürgerforen würden die eigene Haltung nicht exakt stützen, liegt auf der Hand. Bürgerforen ersetzen selbstverständlich nicht die üblichen Anhörungen von Verbänden und Initiativen. Erfahrungsgemäß kommen die Bürgerforen aber zu sehr differenzierten Ergebnissen.
Klares Nein. Das ist auch nicht der Anspruch. Denn Repräsentativität würde dazu führen, dass die Runden mit den Zufallsbürgerinnen und -bürgern viel zu groß würden. Eine vertiefte Debatte, bei der alle zu Wort kommen, wäre nicht mehr möglich. Die Zufalls-Methode zielt dagegen auf Vielfalt ab. Das geschieht mit verschiedenen Lostöpfen wie Alter oder Geschlecht. So ist es zum Beispiel möglich, bei der Zufallsmethode immer rund 50 Prozent Frauen an den Dialogen zu beteiligen. Auch jüngere Menschen sind auf diese Weise gut vertreten. Bei den üblichen Bürgerversammlungen dagegen dominieren ältere Männer über 60. Das merkt man dann auch am Tonfall der Debatten.
Eine ideale Größe sind zwölf bis 15 Teilnehmende. So ist es zum Beispiel in Vorarlberg vorgeschrieben. Dort sind Bürgerräte verfassungsrechtlich abgesichert. Bei Bürgerräten in der Schweiz sind es oft um die 20 Teilnehmende.
- Der entscheidende Vorteil ist, dass die Teilnehmenden nicht „betroffen“ sind. Diese emotionale Distanz hilft. Das Los sichert diese Distanz. Schon die Athenische Demokratie kannte diese Idee.
- Die Zusammensetzung solcher Bürgerforen ist sehr ausgewogen. Jüngere und Ältere, Frauen und Männer sind gleichmäßig dabei. Das regelt das Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung.
- Durch einen breiten Input sind die Zufallsbürgerinnen und -bürger hervorragend informiert. Sie kennen danach die wissenschaftlichen Grundlagen, die Sicht von Politik und Verwaltung und eben auch die harte Kritik an einem Vorhaben. Das kostet Zeit und ist für Teilnehmenden sehr aufwändig.
- In den Medien gibt es eine sogenannte „false balance“ (falsches Gleichgewicht). Extreme Position dominieren. Streit verkauft sich besser. Das Bürgerforum dagegen bekommt viel breiteren Input, als auf eine Zeitungsseite passt (siehe oben).
- In einem Bürgerforum kommen auch die Stillen zu Wort. Viele Menschen wollen zum Beispiel bei einer Bürgerversammlung nicht öffentlich sprechen. Und viele Menschen gehen nicht zu einer Bürgerversammlung. Die Los-Auswahl aktiviert solche Menschen. So ist es möglich, zum Beispiel viel mehr Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder junge Familien in die Bürgerbeteiligung einzubinden.
- Ein Bürgerforum ist dynamisch. Es ermöglicht eine neue Meinungsbildung. Eine Umfrage oder ein Bürgerentscheid dagegen werfen allenfalls ein kurzes Schlaglicht. Sie erfassen nur kurz den Meinungsstand zu einem festen Zeitpunkt.
- In einer wissenschaftlichen Erhebung fand die Universität Stuttgart-Hohenheim heraus, dass nahezu zwei Drittel der Bundesbürger die Dialogische Bürgerbeteiligung besser finden als die Direkte Demokratie.
Seit Anfang der 2010er-Jahre setzt sich diese Form der Bürgerbeteiligung weltweit immer stärker durch. Auch die Erkenntnisse um Stuttgart 21 haben dabei eine Rolle gespielt. Stark ausgeprägt und erforscht wurde diese Methode in den USA. In Europa führend sind das kleine österreichische Bundesland Vorarlberg, die Region Ost-Belgien und die Republik Irland. In Irland gab es weltweit für Aufsehen sorgende Bürgerforen zur Homo-Ehe und zur Abtreibung.
Ferner ist weltweit nach dem Brexit die Begeisterung für die Direkte Demokratie spürbar abgekühlt. In Großbritannien und Frankreich gab es inzwischen zahlreiche Bürgerräte.
Baden-Württemberg ist bundesweit führend. Als erstes Land gibt es hier ein modernes Gesetz für die Dialogisches Bürgerbeteiligung.
Inzwischen kommt die Dialogische Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene an. 2021 gab es einen ersten Bürgerrat beim Deutschen Bundestag. Der Koalitionsvertrag der Ampel hat ferner, auf Initiative von Baden-Württemberg, den Begriff und die Idee der Dialogischen Bürgerbeteiligung übernommen.